Es schmerzt, wenn der soziale Toddem physischen vorausgeht
Ärztin Dr. Nina-Kristin Eulitz über Palliativmedizin und die Bedürfnissesterbender Menschen
Der Artikel ist erschienen: Mittwoch, 25. Mai 2022, Wolfhager Allgemeine/30. Mai 2022 HNA Kassel
Autorin: Antje Thon
Kassel – Seit April 2021 gibt es am Marienkrankenhaus Kassel die Palliativmedizin.Mit deren Leiterin Dr. Nina-Kristin Eulitz sprach HNA-RedakteurinAntje Thon.
Frau Dr. Eulitz, worum geht es bei einer palliativen Behandlung?
Dr. med. Nina-Kristin Eulitz
In unser Palliativmedizinisches Zentrum im Marienkrankenhaus Kasselkommen Menschen, die an einer lebenslimitierenden, fortschreitenden Erkrankungleiden, die so weit fortgeschritten ist, dass die damit einhergehendenSymptome den Alltag der Erkrankten und deren soziales Umfeldesschwer beeinträchtigen. Unsere Aufgabe ist es, alle belastenden Symptome– wie z. B. Schmerzen, Übelkeit, Atemnot, aber auch schwere Schlafstörungenoder Ängste – zu behandeln, damit diese verschwinden oder erträglichwerden.
Was unterscheidet ein Hospiz von der Palliativmedizin?
Die Unterschiede liegen in der Besetzung und der therapeutischen Ausrichtung.In einem Hospiz wird die Versorgung durch Palliative-Care-Fachpflegekräftegeleistet, die durch Ehrenamtliche unterstützt werden. Beiden versorgten Menschen sind lebensverlängernde Therapien abgeschlossen.Der Fokus liegt auf Symptomkontrolle.Auf einer Palliativstation arbeiten Palliative-Care-Fachpflegekräfte mit Ärzten,Psychologen, Seelsorgern, Physiotherapeuten, Sozialarbeitern, Musiktherapeuten,um in einem ganzheitlichen Zugang einen Weg zu finden, belastendeSymptome möglichst rasch zu kontrollieren. Dazu werden alleMöglichkeiten der modernen Medizin genutzt. Eine Palliativstation ist einOrt der Krisenintervention. Der überwiegende Teil der Krisen kann überwundenwerden, sodass die Betroffenen in ihr Lebensumfeld zurückkehrenkönnen. Ist dies nicht mehr möglich, wird die Palliativstation zum Ortder Sterbebegleitung.
Was könnten die Gründe dafür sein, dass Betroffene vor einer palliativenBetreuung zurückscheuen?
Das Wort „palliativ“ wird häufig mit Todesnähe assoziiert und daher gefürchtet.Das ist sehr schade, da eine Palliativversorgung nichts über dieLänge der verbleibenden Lebenszeit aussagt. Bei bestimmten Erkrankungenbehandeln wir Menschen sowohl auf unserer Palliativstation als auchmit unserem ambulanten Team manchmal über Jahre hinweg.
Was ist der richtige Zeitpunkt für den Beginn mit der palliativenBetreuung?
Wer unter den Symptomen einer fortschreitenden, weit fortgeschrittenenErkrankung leidet, darf Palliativversorgung in Anspruch nehmen und wirdLinderung erfahren. Zusätzlich steht die Palliativmedizin aber auch ab Zeitpunktder Diagnose einer lebenslimitierenden Erkrankung als Dialogpartnerzur Verfügung. Der Hausarzt kann ein einmaliges palliatives Beratungsgesprächverordnen, das Klärung bringt. Menschen, die zu Ihnen kommen, wissen, dass ihnen nur noch eine begrenzteZeit bleibt.
Was hilft Sterbenden in dieser Situation, abgesehenvon einer lindernden Medizin?
Palliativversorgung ist ein Schutzraum, in dem ein multiprofessionellesTeam mit den Erkrankten und ihren Zugehörigen genau danach fragt:„Was ist jetzt in dieser Situation wichtig?“ Bereits dieses Angebot ist hilfreichund lindert Ängste.Die Antworten sind unterschiedlich. Für den einen kann es hilfreich sein,noch einmal ein Gespräch mit einem wichtigen Menschen zu führen, zudem der Kontakt abgerissen war; einem anderen kann es helfen, die Bilder,die vom Grund der Seele aufsteigen, nicht mehr zu unterdrücken,sondern begleitet anzuschauen. Manchmal kann noch kurz vor dem TodVersöhnung und ein Stück inneres Heilwerden gelingen. Man kann sagen,dass Zuwendung, Da-Bleiben, Offenheit, Wertschätzung für das gelebteLeben und Akzeptanz der individuellen Schwerpunkte für Sterbende hilfreichsind.
In unserer heutigen Zeit fühlt es sich so an, als hätten wir es verlernt, mitMenschen, die in naher Zukunft sterben werden, zu reden. Wie lässt sichdiese lähmende Sprachlosigkeit überwinden?
Man kann sich informieren, mit anderen austauschen und Gesprächeüben. Dazu gibt es Kurse: z. B. „Letzte Hilfe-Kurs“ bei der APPH Nordhessenoder Vorbereitungskurse für ehrenamtliche Mitarbeit bei Hospizdiensten.Es ist wichtig zu wissen, dass es für die Erkrankten sehr schmerzhaftist, wenn der soziale Tod dem physischen vorausgeht. Wenn man sich einHerz zu einem Telefonat oder einem Besuch fasst, darf man die eigeneUnsicherheit auch benennen – und wahrscheinlich wird das die Sprachlosigkeitam ehesten verfliegen lassen. Sterben ist bis zum Schluss Leben.
Haben Sie Angst vorm Sterben?
Aus meiner jetzigen Lebenssituation gesprochen, sage ich: Nein, ich habekeine Angst vor dem Sterben, aber sehr großen Respekt. Ich denke, dassder Sterbeprozess die letzte große Reifungsaufgabe unseres Lebens ist,bei der alles Überflüssige und Oberflächliche entfernt wird. Ich hoffe, dassich dann Menschen an meiner Seite haben werde, die mir helfen, und dassmich mein Glaube trägt.
Hier ist der komplette HNA-Artikel:
Inklusive einem weiteren Artikel über eine Patientin, die über ihre Erfahrungen auf der Palliativstation und mit dem SAPV-Team des Marienkrankenhauses Kassel mit der HNA-Redakteurin Antje Thon gesprochen hat.
HNA-Artikel Palliativmedizin im Marienkrankenhaus Kassel von Antje Thon_25.05.2022 #J-18808-Ljbffr